Langsam, ganz langsam. Du musst jetzt ruhig bleiben, ganz ruhig. Entspann dich. Und konzentrier dich! Das cochonnet liegt genau richtig für dich. Nicht zu nah und nicht zu weit. Du darfst
bloß nicht in dem Sandloch aufkommen. Und auf dem groben Kies auch nicht. Da springt dir die Kugel sonstwo hin. Du musst in dieser ausgetrockneten Wasserrinne landen. Dann läuft sie wie von
selbst auf das cochonnet zu. Aber du darfst die Kugel nicht zu fest werfen. Das Terrain geht leicht bergab. Also konzentrier dich. Die Monologe mit dem Ich nehmen kein Ende. Die Einheit von Kopf
und Körper herzustellen muss gebetsmühlenartig herbeigeredet werden. Der einsame Kampf um die Geschicklichkeit ist quälend und stimulierend zugleich. Doch das sieht man dem Boule-Spieler nicht
an. Er wirkt von außen eher wie ein bewegungsfauler Zeitgenosse, der so tut, als würde er einen Sport betreiben. Denn was ist da schon dabei, eine etwa 700 Gramm schwere Stahlkugel möglichst nahe
an eine etwa kirschengroße und cochonnet genannte Holzkugel zu werfen, die maximal zehn Meter entfernt liegt?
So eine Frage kann nur ein unbedarfter Boule-Laie stellen. Der Fachmann und der Amateur wissen: Es kann die Hölle sein. Eine Hölle ohne Hektik oder irgendwelche Elementargewalten. Aber
kalt und gemein. Unglaubliches Glück und absurdes Pech wollen psychologisch verkraftet werden. Und dazu kommt: Man spielt nur beim tete à tete alleine gegen einen Gegner. Ansonsten ist man Teil
einer Mannschaft: als pointeur oder als tireur, als Leger, der als erster die Kugel so nah wie möglich an das cochonnet plaziert, oder als Schießer, der die Kugel der gegnerischen Mannschaft mit
Gewalt aus dem Spiel katapultiert.
Stille soziale Intelligenz und eine effiziente Motivations-Technik, die bis zur perfiden Masche der Beleidigung als Kunstform reicht, sind gefragt. Seelische Defekte, peinliche
Gewohnheiten und ganz normale Form- oder Hormon-Krisen müssen entschlossen weggespielt werden. Man ist Therapeut und Patient in einem. Kurzum: Boule ist ein psychologischer Hochleistungssport,
der durch eine betonte Lässigkeit im Auftreten möglichst kaschiert werden soll – wenn man erfolgreich sein will.
Denn zu diesem Stress mit dem eigenen Ego und denen in der eigenen Mannschaft kommt noch ein Gegner hinzu, dessen charakterliche Abgründe bekannt sind, geahnt werden oder recht schnell
begriffen werden müssen. Da gilt es Eigenschaften zu entwickeln, die nicht immer mit der bürgerlichen Norm oder dem christlichen Katechismus kompatibel sein können. Die gezähmte Bestie mit
Killerinstinkt ist beim Boule gefragt – aber immer ganz lässig und cool wie ein rotweinseeliger Franzosendarsteller aus der Provence.
Der Boulespieler ist natürlich auch ein Schauspieler seiner besonderen Lebensart. Und da tut sich ein Abgrund an allzu menschlichen Peinlichkeiten auf. Das so beschaulich wirkende
Boulodrom ist die ideale Bühne für einen Veitstanz, bei dem alle Gemeinheiten des deformierten bürgerlichen Charakters ausgelebt werden können. Seelisch Verelendete, im Privat- wie im Berufsleben
Gescheiterte finden zuhauf auf dem Bouleplatz ihre vermeintlich letzte Rettung – und agieren auch dementsprechend: als verbissen ehrgeizige Fanatiker des Regelwerks und der gnadenlos lächerlichen
Vereinsmeierei in all ihren düsteren Schattierungen. Es sind Menschen, die eigentlich in eine geschlossene Boule-Anstalt gehören. Aber der ahnungslose Flaneur, der beispielsweise im Frankfurter
Günthersburgpark oder auf der Darmstädter Mathildenhöhe eine Weile etwas amüsiert dem Spiel zusieht, bekommt von alledem natürlich nichts mit.
Es gibt zum Glück auch noch andere Spieler auf dem Bouleplatz. Die Entdeckung der Langsamkeit im Gestus und die Vereinigung von Körper und Geist sind deren größtes Glück. Sie genießen es
am späten Nachmittag bis zur Dämmerung für ein paar Stunden in ein ganz anderes Leben und Denken einzutauchen. Vergessen sind Bits und Bytes, Vergaser und Versager, Statik und Statistik, Renten
und Renditen, Derwische und Despoten, Weltgeist und andere Wichtigkeiten. Möglichst nahe an eine kleine Holzkugel namens cochonnet heranzukommen: Das ist der Sinn des Lebens. Schopenhauer kann
warten.
Von Lionel van der Meulen
Dieser Text ist dem Buch „Hessen langsam“ von Martin Maria Schwarz und Ulrich Sonnenschein entnommen, erschienen im Jonas Verlag, Marburg.
Die Veröffentlichung ist vom Autor genehmigt.
Papazian ist Philosoph.
Eine Berufsbezeichnung, die der Mensch im Süden Frankreichs auch ohne Studium führen kann. Eine dunkelgraue Baskenmütze beschattet sein zerfurchtes Gesicht. Er sitzt auf einer Bank unter Platanen auf der Place des Lices. Die Zigarette hält er in der linken Hand, als wollte er sie wiegen. In der rechten liegen zwei Eisenkugeln. Sie sind mit Kratzern und Kerben übersät. "Es gibt zwei Sorten von Männern", sagt Papazian. Er zieht an der Zigarette. Kunstpause. "Die einen hetzen auf dem Rasen wie die Verrückten dem Ball hinterher." Bon. "Die anderen ..." Er lächelt, so wie die Alten nun mal lächeln, die aus Erfahrung klug geworden sind: "Die anderen schieben lieber eine ruhige Kugel."
Voila, c'est ca. Das ist Boule.
Unternehmen wie Mercedes-Benz oder L'Oreal schicken ihre Führungskräfte zu Papazian nach St-Tropez. Er gibt den gestressten Managern, Handelsvertretern oder Ingenieuren zuerst die Kugel und lehrt sie dann, dass Boule "ein Spiel für die Seele" ist. Eine entspannte Lebensart. Ihr Geheimnis, so Papazian, laute: Erlerne die Ruhe des Südens! Überlass die Adrenalinschocks den Verrückten! Entspanne im gemütlichen Wettstreit!
Anders gesagt: Boule ist die konsequente Fortsetzung des Savoir-vivre.
Das Schauspiel beginnt. Raymound der Poet tritt auf. Seine Glatze bedeckt eine beigefarbene Schiebermütze, die er niemals absetzt. Warum die anderen ihn so nennen? Weil er ein Idealist
ist, dem die Schönheit des Spiels über alles geht. Was er wirklich macht? Ist doch egal. Auf die Place des Lices kommen die Menschen, um zu vergessen, was sie wirklich machen.
Raymound steht im Abwurfkreis wie im Scheinwerferlicht. Er setzt sich in Pose. Raymound ist ein "pointeur", einer, der das gefühlvolle Legen der Eisenbälle möglichst nah an die kleine Zielkugel beherrscht, an das "cochonnet", das Schweinchen. Raymound streichelt seine Kugel, lässt sie locker in der Hand kreisen, um sie dann mit traumhafter Sicherheit einen Zentimeter neben die hölzerne Sau zu platzieren.
Das ist vom Gegner kaum besser zu machen. Also muss Raymounds Kugel aus dem Weg geschossen werden. Noïl muss ran. Er ist der wortkarge Sprengmeister, im Boule-Jargon "tireur" genannt. Die
kompliziertesten Kugelstellungen bombt er mit einem einzigen Wurf auseinander. Meist hält er seine rissigen Hände vor seiner Gürtelschnalle gekreuzt und beobachtet mit zusammengepressten Lippen
die Partie. Erst wenn er gebraucht wird, lebt er auf. Er haucht kurz in seine geballte Hand. Dann tritt er an. Bei ihm sieht der Wurf so aus, als schmeiße er eine Handgranate in den feindlichen
Graben.
Noel kann jedoch mehr als nur zerstören. Er liebt es, den schwierigsten aller Würfe zu bringen. Diesmal hat er ihn auch noch mit einem "retro", einem Rückdrall, versehen. Seine Kugel
knallt die feindliche weg; die reißt noch eine weitere mit, während Noïls Kugel plötzlich kehrt macht und auch noch zart gegen das anfangs überrundete "cochonnet" tippt - der Königswurf!
Eigentlich ist Boule ein einfaches Spiel, kompliziert ist nur die Taktik. Die einen legen eine Kugel nahe ans Ziel, die anderen müssen entweder dichter ran oder die gegnerische
wegschießen - aus dieser simplen Konstellation ergeben sich die vielfältigsten Möglichkeiten. Hier beginnt der so beliebte Boule-Ritus: fragen, schauen, beurteilen. Wie gut liegt die Kugel des
Gegners? Legen oder schießen? Dann erst die Entscheidung, die Konzentration, der Wurf. Das "bien joue", der Jubel. Oder das "merde", das Lamentieren.
Während Papazian seine Kugel mit dem Lappen vom Staub säubert und sich auf seinen Wurf vorbereitet, lassen die anderen ihre Murmeln aus Eisen in den Händen aneinander klacken. Eine
geradezu sinnliche Untermalung. Jeder hält die Kugeln auf seine Weise. Aber eines ist ihnen allen gemeinsam: Sie sind zärtlich zu ihren Spielgeräten. Die Finger tasten gedankenvoll die Rundungen
ab. Niemals legen sie ihre Kugeln beiseite. Es hat schon etwas Machohaftes, wie sie ihre Boulekugeln behandeln. Eben noch liebevoll von allen zehn Fingern umworben, Sekundenbruchteile später
Bombe, Rammbock, Geschoss.
Papazian bringt sich in Stellung. Er lässt seine Kugel durch die Finger gleiten und beschwört die magische Freundschaft zwischen Hand und Eisen: "Ist die nicht da, kann man auch nicht gut spielen."
Papazian ist ein Künstler, der die graziösesten Würfe inszeniert. Der Verlauf der Kugel spiegelt sich in seiner Mimik wider. Er möchte, dass sie seiner Stimme gehorcht. Er beschleunigt
oder bremst ihren Lauf. Er feuert sie durch Gesten an und treibt sie durch Schulterbewegungen nach vorn. Er mäßigt sie mit der Hand; auf Zehenspitzen tänzelnd, mit ausgestreckten Armen verleiht
er seinem Körper die eigenartigsten Bewegungen. Es scheint, als sei seine Seele in die Kugel gewandert - der Eisenball rollt so nah an das "cochonnet", dass nicht mal ein Blatt Papier
dazwischenpasst. Papazian ist mal wieder von sich selbst überwältigt. Er reißt die Arme hoch: "Ich bin ein Siegertyp!"
Einige Minuten später gratuliert er seinen Gegnern, weil er die letzte Kugel "verlegt" hat..
Schwer zu sagen, ob Boule ein Sport, eine Weltanschauung oder doch nur ein Spiel ist. Oder schlicht ein "amusement", wie Jean meint.
Noïl, Raymound, Jean und Papazian stehen in "Le Cafe" an der Theke. Sie schwärmen von ihrer Leidenschaft. Jeder könne mitmachen: der Übergewichtige, der Untrainierte, sogar der Unsportliche. Das mache Boule so liebenswert - und zum demokratischsten aller Spiele. "Boule ...", sagt Papazian. Bevor er weiterredet, genehmigt er sich erst mal einen Schluck von seinem Petit Rouge.
"Boule will dich so, wie du bist."
Boule ist cool und Petanque macht schlank.
Oyu Sophie
Deutsche Jugend Meisterin 2018
aus Schwerin
Wenn die Akustik nicht stimmt, haut die Ballistik auch nich hin!
Faxo von Stövhase
Boulelegende aus Schwerin
Davor ist besser als dahinter, schrieb Paulus schon an die Korinther.
Frazy-Frasier-Fanzy -Frobbit Kugelschild aus Segeberch